De Hamburger Veermaster

 

Der Zuschauerraum der Kleinen Musikhalle (Hamburg) verdunkelte sich, die Scheinwerfer waren auf die Bühne gerichtet. Wider Erwarten spielte hier jedoch gar nicht die Musik. Stattdessen ertönte aus allen vier Ecken des Saales ein leises, langsam lauter werdendes Rauschen. Der Zuschauer wurde mitgenommen auf hohe See, wo lärmende Wellen einem umgeben. Wenig später erklangen erste Teile aus dem Shanty "Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn", so dass nun vollends deutlich wurde, wohin die Reise führte.

Begonnen hatte die Geschichte viel früher. Der Landesmusikrat der Freien und Hansestadt Hamburg schrieb Anfang des Jahres ein Projekt unter dem Titel "Eine Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts" aus. Die Idee sollte es sein, Musik einmal ganz anders klingen zu lassen. Zielgruppe dieser Aktion waren Komponisten und allgemeinbildende Schulen, die Lust zur Zusammenarbeit haben, um auf kreative und produktive Weise neue Erfahrungen im Umgang mit dem Komponieren Neuer Musik zu gewinnen.

Diese Ausschreibung kam wie gerufen, da sich die Klasse 7d des Walddörfer-Gymnasiums (Hamburg) im Musikunterricht gerade mit Komponistenporträts beschäftigte und bereits eine Exkursion nach Lüneburg auf den Spuren von J. S. Bach sowie einem Besuch im EULEC-Zentrum (European Live Electronic Center) hinter sich hatte. Zusammen mit Prof. Erdmann (Komponist, Flötist und Professor für Komposition) hat sich unsere Schule an der Ausschreibung beworben und unter großem Lob für das Bewerbungskonzept den Zuschlag zur Realisation erhalten. Dieses Projekt ("Eine Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts") des Landesmusikrates Hamburg wurde vom Bundespräsidenten Rau wenig später im März auf der Musikmesse in Frankfurt mit dem "Inventio" - Förderpreis des Deutschen Musikrats und der Stiftung "100 Jahre Yamaha" ausgezeichnet. (Vgl. Hamburger Abendblatt, 02.04.04)

Nun konnte die Arbeit also beginnen. Doch wie soll die Probe eines Stücks beginnen, das es noch gar nicht gibt? Das Einzige, was bereits feststand, war der Termin für die krönende Abschlussvorführung am 11. Juni 2004, um 19 Uhr in der Hamburger Musikhalle.

In solch einer "Nullstunde" ist es hilfreich, mit einem Brainstorming zu beginnen, um zu sehen, ob es nicht vielleicht doch den ein oder anderen Anknüpfungspunkt gibt. Und siehe da, wir wurden schnell fündig. Zum einen war da unsere Heimatstadt Hamburg. Sie sollte in unserer Komposition eine Rolle spielen. Dann konnte auf die Vorerfahrung der Schüler bezüglich Neuer Musik aus dem Musikunterricht zurückgegriffen werden. Und als Drittes spielen viele Schüler seit Jahren ein Musikinstrument. Diese Voraussetzungen ließen ein Konzept entstehen: Es sollte ein Variationssatz über das Lied "De Hamborger Veermaster" entstehen, das gemäß der Kompositionstechniken des 20. Jahrhunderts bearbeitet ist und das die Schüler mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten zum Klingen erbringen können. Durch anfängliches Ausprobieren von Spieltechniken auf den einzelnen Instrumenten und deren Wirkungsweisen kristallisierten sich drei Gruppen heraus: Die Sänger, die Instrumentalisten und die "Live-Elektroniker". Entsprechend ihrer Interessen konnte sich jeder der 22 Schüler einer Gruppe zuordnen, so dass die Klasse als Ganzes gefordert war. Zwecks Stärkung der Gemeinschaft war uns das Einbeziehen aller Schüler an dem Projekt wichtig.

Die Notation des Werks greift die Dreiteilung auf, indem jede Seite alle drei "Stimmen" wie in einer herkömmlichen Partitur untereinander notiert. Statt einer Taktangabe gibt es eine Einteilung in Sekunden und Minuten. Damit ein Zusammenspiel ermöglicht wird, ist ein "Zeitanzeiger", der frühere Dirigent, notwendig. Er benutzt seine Arme als Uhrzeiger. Da nun nicht gleichzeitig noch Einsätze gegeben werden können, wird eine zweite Person benötigt, die die Aufgabe der "linken" Hand eines Dirigenten übernimmt. Diese Dirigententätigkeiten übernahmen Herr Erdmann und ich.

Zurück zu den Schülern. Während die Sänger und Instrumentalisten wussten, welchen Part sie spielen werden, war das der Gruppe der Elektroniker gar nicht klar. Erst der Workshop in Lüneburg im Zentrum für Live-Elektronik ließ den Schülern ihre Aufgabe deutlich werden. Vier Synthesizer standen zur Verfügung, mit denen neben dem Erzeugen von Rauschen auch das Verändern der Töne, die über ein Mikrofon eingehen, vorgenommen werden kann. Das hatte zur Folge, dass die Stimmen der Sänger und die Klangfarben der Instrumente verfremdet werden konnten.

Die Gesangsgruppe blieb als Ganzes zusammen, die restlichen Instrumente verteilten sich auf die drei anderen Synthesizer. Gleichzeitig wurde hiermit die Idee geboren, das Stück als "Raumkomposition" zu realisieren, wobei jede Gruppe in einer Ecke agiert. Dieser sehr ungewohnte Umgang mit Technik und Instrument bewirkte eine starke Skepsis auf Seiten der Schüler. Während die Techniker Spaß am Experimentieren entwickelten, war auf Seiten der Sänger eine Ablehnung überdeutlich. Warum sollte man plötzlich Wörter angeekelt sprechen und statt schön zu singen, durfte, ja sollte man jetzt schreien? Mit anderen Worten, man bemerkt deutlich den Einfluss der Pubertät, denn Fünftklässler gehen mit ähnlichen Dingen, wie z. B. dem Vertonen von Gedichten viel unkonventioneller und offener um. Bis zur Aufführung im Juni zog sich nun also die Sinn- bzw. Unsinns-Diskussion des ganzen Projekts auf Schülerseite hin.

Zwei weitere Besuche im Zentrum in Lüneburg sowie wöchentliche Proben im Musikraum (und der Aula zwecks Raumeindruck) ließen die Komposition allmählich heranreifen. Viele Ideen, die die Schüler durch Experimentieren entwickelten, wurden festgehalten und im weiteren Verlauf eingebracht. Seit dem Beginn nach Ostern wuchs das Werk wöchentlich um eine Seite, sprich um eine Minute. Dann endlich Ende Mai war es vollbracht, die Komposition stand in seiner Gänze und musste "nur" noch intensiv bis zur Aufführung geprobt werden.

Dem Werk liegt folgende Konzeption zu Grunde: Die erste Minute lässt durch das Meeresrauschen (zunächst als Weißes Rauschen durch die Technik, dann hinzukommend das Rauschen mit dem Mund der Sänger und schließlich ein Rauschen der Instrumentalisten, indem die Instrumente auf unkonventionelle Weise gespielt worden, z. B. Luftströmen in den Flötenkopf, Schaben über die Gitarrensaiten.) eine Klangkulisse entstehen.

Während der zweiten Minute hört der Zuschauer geflüsterte Worte des Liedes "Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn". Die Wortanzahl nimmt zu, bis eine Vorsängerin den Anfang der ersten Strophe tonal singt. Das "to my hoodah" wird vom Chor gesungen, nicht ganz unisono, wodurch die ausgelassene Stimmung der Matrosen zum Ausdruck gebracht wird. Die Instrumentalisten begleiten diesen Vorgang, indem sie vom Luftton langsam immer mehr zum tonalen Ton übergehen. Die einzelnen Töne geben einen Akkord, der als Dissonanz den Übergang zur dritten Minute einleitet. Ähnlich dem Vorwegnehmen des Strophentextes, wird nun das Wort "Blow" halb gesprochen und halb gesungen, um den anschließenden tutti-Refrain-Anfang erklingen zu lassen. Nach zwei Takten bricht der Gesang ab und wird durch die Geräuschkulisse unterbrochen. Von hinten und vorne hört man aus den vier Ecken einzelne Instrumente (zuerst das Horn, dann die Klarinette, zuletzt die Bratsche), die die Refrainsmelodie beenden, jedoch durch die Klangveränderung des Synthesizers einen neuartigen Sound bekommen. Der Wind - das Blow - nimmt bis zur vierten Minute zu, die Flöten imitieren dies mit Hilfe der Flatterzungentechnik. Während es noch kräftig weht, ertönt der Anfang der zweiten Strophe (Dat Logieß weur vull Wanzen). Die Kameraden scheinen nur flüchtig zu verstehen und fragen verwundert nach: "Wanzen?" Auch die Fortsetzung "de Kombüs weur voll Dreck" wird nur ungläubig verstanden. In der fünften Minute bricht alle Zurückhaltung auf. Der "Dreck" und die "Wanzen" beherrschen nicht nur die Elektroniker, die den Ringmodulator ein- und ausstellen, auch die Instrumente sind völlig fassungslos, indem sie wild durch alle Oktaven springend durcheinander trillern, pizzicati und tremoli spielen.

Zwischen dem "Wanzendreck" ist von weiter Ferne das Summen des Refrains zu hören. Im zweiten Teil der fünften Minute werden alle hysterischer, nachdem nun auch noch die Rede von "Speckmaden" ist. Ein dissonanter Akkord leitet wieder über zur sechsten Minute. Diese sechste Minute ist eine Komprimierung der vergangenen fünf Minuten. Ganz im Sinne einer klassischen Reprise kehrt das Anfangsthema, sprich der Anfang der ersten Strophe zurück. Dieses Thema erklingt jedoch nur zwei Takte lang, dann mischt sich sofort das Sprechmotiv der "Maden, Wanzen, Dreck" (aus der zweiten und dritten Strophe des Originaltextes) ein und stört den Verlauf (vgl. Seitenthema eines klassischen Sonatenhauptsatzes). Die dissonanten Akkorde erklingen nun vertikal. Die siebte Minute lässt ein letztes Mal den Refrain erklingen, der von Pausen und dissonanten Haltetönen unterbrochen wird. Poco à poco wird der Gesang leiser und allmählich gehen die Töne wieder über zum Rauschen. Auch die Instrumentalisten schließen sich dem Rauschen an, indem sie ihre Instrumente wie anfangs auseinander nehmen und nur auf den Mundstücken bzw. einer Saite spielen.

Ein letzter Möwenschrei und eine weit entfernte Schiffssirene sind noch im Rauschen zu hören, bis auch dieses dem Hörer entschwindet, indem alle Spieler den Saal verlassen, womit das Stück beendet wird.

Um den Zuschauern auch optisch etwas zu bieten, trug die ganze Klasse passend zum Stück "Hamburg"- Kleidung, allem voran die Lehrer als Matrosen.

Der Beifall nach der Aufführung am 11. Juni war tosend, die Schüler stolz, die Eltern begeistert und Herr Erdmann und ich zufrieden, trotz mancher Durststrecke ein tolles Werk "Neuer (Programm-) Musik" dank der Unterstützung durch den Landesmusikrat Hamburg und vieler "technischer" Helfer ins Leben und zur Aufführung gebracht zu haben.

Brigitte Köchlin, Musiklehrerin am Walddörfer-Gymnasium (Hamburg)